Es liegt nur circa 70 Kilometer von der Großregion Aachen und damit auch von Kohlscheid entfernt: Das Kernkraftwerk (KKW) Tihange in Belgien macht immer wieder durch Negativschlagzeilen auf sich aufmerksam. Nun gibt es eine Studie vom Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften an der Universität für Bodenkultur Wien, die die Folgen eines GAUs berechnet hat. Das Ergebnis ist für die Städteregion wohl Anlass genug, eine zweite Klage vor einem belgischen Zivilgericht einzureichen.
Die Studie, präsentiert von Nikolaus Müllner und Wolfgang Renneberg, berechnet nur die Folgen der nuklearen Katastrophe, nicht die Wahrscheinlichkeit, dass es überhaupt so weit kommt. Dass diese Wahrscheinlichkeit aber gar nicht so klein ist, vermuten Bürger und Politiker aufgrund der vorliegenden Daten aus den letzten Jahren. Danach finden sich mehr als 3.100 Risse allein in Tihange (Stand Februar 2015) – in dem zweiten belgischen Kraftwerk Doel ist die Lage nicht viel besser. Diese Zahlen wachsen, denn die Risse sind nicht alle alt, es entstehen offenbar immer wieder neue.
Die Lage in Tihange
Tihange besteht aus drei Reaktoren, wobei im Moment vor allem der Reaktor 2 Sorge bereitet. Schon lange kämpfen Aktivisten für eine Abschaltung, denn Kohlscheid und der ganze Aachener Raum liegen genau in der Westwindschneise, die die Strahlung herbeiwehen würde. Die Genehmigung für den Betrieb von Block 2 läuft bis 2023, für Block 3 bis 2025. Für den seit dem Jahr 1975 arbeitenden Block 1 wurde die Genehmigung erst 2012 bis ins Jahr 2025 verlängert. Das halten Experten nicht für vertretbar, denn Stromengpässe, wie von der belgischen Regierung befürchtet, seien nicht zu erwarten. Es sei genügend Strom vorhanden.
Hohe Risiken
„Bei einem Störfall in Tihange mit einem anschließenden Versagen des Reaktordruckbehälters kann der Fall eintreten, dass die Region Aachen unbewohnbar wird.“
Die Menschen der Region Aachen wollen nicht mehr mit der Angst leben müssen, dass ihnen oder ihren Kindern etwas Grauenvolles wie in Tschernobyl oder Fukushima passiert. Die beiden Experten für Reaktorsicherheit haben in ihrer Studie 3.000 realistische Wetterszenarien und eine Fülle an Details untersucht. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass es allein für die Erhöhung der Strahlenbelastung um das Dreifache eine 30-prozentige Wahrscheinlichkeit gibt. Zur Erklärung: Die Belastung wird in Millisievert gemessen und darf aktuell bei einem Millisievert pro Jahr liegen. Wir sprechen dann also von drei Millisievert und einer recht hohen Wahrscheinlichkeit.
Weiterhin besteht eine 10-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Belastung von 25 Millisievert kommt. Bei diesem Wert müsste evakuiert werden. Allerdings ist die Chance auf eine rechtzeitige Evakuierung aller Menschen aus der Großregion Aachen bei der kurzen räumlichen Entfernung zu Tihange kaum gegeben.
Bei extrem ungünstigen Wetterbedingungen kann es zu deutlich höheren Strahlenwerten kommen. Die Region Aachen und damit auch Kohlscheid wären auf lange Zeit unbewohnbar, die Menschen müssten dauerhaft umgesiedelt werden.
Eine zweite Klage steht an
Angesichts dieser Studie und der fehlenden grenzüberschreitenden Kooperationsbereitschaft wollen die deutschen Behörden nicht untätig bleiben und erwägen eine zweite Klage vor einem belgischen Zivilgericht. Immerhin würde solch ein GAU mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur Kohlscheid und den Aachener Raum, sondern große Gebiete von Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus in Mitleidenschaft ziehen.